Dies ist der dritte Teil unserer Artikelreihe über Placebos (Teil I und Teil II). Diesmal betrachten wir einen besonders merkwürdigen, im Grunde aber nur konsequenten Aspekt der Wirkung wirkstofffreier Stoffe oder Methoden: ihre Nebenwirkungen. Placebos können, genau wie „echte“ Medikamente oder Therapien, schädliche Nebenwirkungen entwickeln, vor allem wenn Menschen dies erwarten – das nennt man den Nocebo-Effekt. Anders gesagt, wenn der Placeboeffekt der erwartete Nutzen von etwas ist, ist der Nocebo-Effekt, der sich manifestierende erwartete Schaden. Wir würden über den Nocebo nicht schreiben, wenn er nicht an so vielen Stellen anzutreffen wäre.
Das andere Placebo
Nocebo bedeutet übersetzt so viel wie: „Ich werde schaden“. Es bezeichnet die negativen Effekte einer Therapie, die nicht durch die direkte Wirkung eines aktiven Arzneistoffes auf den Körper oder andere behandlungsspezifische Bedingungen hervorgerufen werden. Der Noceboeffekt kann zur Entstehung eines negativen Symptoms oder zur Verhinderung einer Symptomverbesserung führen.
Viele Voodoo-Praktiken, bei denen andere glauben, sie wären durch einen Fluch zum Tode verurteilt, gehen in die Richtung Nocebo. Es wird hier oft beschrieben, wie der Todgeweihte gesund und kräftig war und sich innerhalb von Stunden schwach und sterbenselend fühlt – in vielen Fällen mit Todesfolge1. Allein durch die Erwartung schlimmer Ereignisse. Ähnliche Effekte können wir bei pessimistischen oder ängstlichen Menschen finden, Heilungsprozesse verlaufen, aufgrund negativer Erwartungen, langsamer oder kommen gar nicht in Gange oder Menschen sterben nach Fehldiagnosen.
Placebos mit Noceboeffekt
Eine neue Überprüfung der Daten von 250.726 Versuchsteilnehmern2 ergab, dass jeder zwanzigste, der im Rahmen von Studien Placebos erhielt, wegen schwerwiegender Nebenwirkungen abbrach. Fast die Hälfte der Teilnehmer berichtete von weniger schwerwiegenden unerwünschten Nebenwirkungen. Die Nebenwirkungen reichten von Bauchschmerzen und Appetitverlust bis zu Magenbrennen, Brustschmerzen, Müdigkeit und sogar Tod. Diese Effekte waren zwar nicht alle Noceboeffekte, sondern auch falsche Zuordnungen von Symptomen, die ohnehin aufgetreten wären, doch ein nennenswerter Anteil verbleibt beim Nocebo. Es zeigte sich außerdem, dass das Auftreten negativer Effekte davon abhing, wie die Studienteilnehmer über die Nebenwirkungen informiert wurden.
Das ist nicht nur für Ärzte, sondern auch für Coaches und Therapeuten wichtig. Die Aufklärung über die Nebenwirkungen einer Intervention oder Psychotherapie kann eben diese Effekte hervorrufen. Hier ist es wichtig einen guten Weg zu finden, zwischen der Vorbereitung des Klienten, falls negative Effekte auftreten, und dem Aussprechen unheilvoller Suggestionen.
Angst ist ein schlechter Ratgeber
In den USA kostete der Nocebo-Effekt den Amerikaner Derek Adams beinahe das Leben. Nach einem heftigen Streit mit seiner Freundin nahm Adams, der Teilnehmer einer klinischen Studie zu Depression war, eine Überdosis eines Antidepressivums. Sein Zustand war nach der Überdosis kritisch und lebensgefährlich. Die Ärzte standen den Symptomen machtlos gegenüber. Sie kannten auch das Medikament nicht. Bevor es schlimmer wurde, konnten die Ärzte und der Patient allerdings aufgeklärt werden. Derek Adams war in der Placebo-Gruppe besagter Medikamenten-Studie. Demnach hatte er eine Übermenge eines Präparats ohne aktiven Wirkstoff zu sich genommen. Es hätte also gar nichts passieren dürfen. Allein die Erwartungshaltung durch die überdosierte Einnahme den Tod zu finden war so stark, dass sich sein körperlicher Zustand tatsächlich in diese Richtung bewegte. Nachdem der Fall aufgeklärt war, erholte sich Derek Adams binnen weniger Minuten.3
Wie man krank wird
Wenn du demnach ernsthaft krank werden willst, erkundige dich ausführlich und im Detail über die Nebenwirkungen eines verabreichten Medikaments. Warnt dein Arzt dich vor den Nebenwirkungen eines verabreichten Medikaments treten diese tatsächlich auch dreimal häufiger auf. Darüber hinaus nährt die Fähigkeit übertrieben Angst zu empfinden den Noceboeffekt.
Vor einigen Jahren fehlinterpretierte eine Patientin die Diagnose des Chefarztes in fataler Weise: Die Patientin hat eine Verengung der Herzklappe und muss dafür gelegentlich ins Krankenhaus. Eines Tages kommt der Chefarzt an ihrem Bett vorbei und spricht zu der ihm folgenden Gruppe: „Das hier ist ein klassischer Fall von „TS“.“ Die Bibliothekarin im Krankenbett interpretierte „TS“ mit „terminale Situation“ – demnach wäre sie dem Tode geweiht und würde bald sterben. Tatsächlich entwickelt sie Symptome – in ihren Lungen sammelt sich Flüssigkeit, sie konnte bald kaum noch atmen. Ein Assistenzarzt schafft es nicht sie aufzuklären: TS ist die Abkürzung für Trikuspidalklappenstenose, also der Fachbegriff für ihre Erkrankung. Als der Chefarzt wiederkommt, um die Patientin aufzuklären, ist sie bereits tot – gestorben an einer Wasserlunge.4
Krank durch nichtexistierenden Elektrosmog
Ein Experiment5 zeigte, dass ebenso mutmaßlicher Elektrosmog und Handystrahlung ernsthafte Symptome beim Menschen hervorrufen können. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Funkmast tatsächlich eingeschaltet ist oder nicht. Es reicht allein die Vorstellung an die negativen Folgen. Schlafforscher der Berliner Charité machten dazu ein Experiment: Sie installierten an einem Ort einen mobilen Sendemast und überwachten den Schlaf von knapp 400 Freiwilligen mithilfe von Sensoren. Die Probanden bewerteten zusätzlich die Qualität ihres Schlafes in einem Fragebogen. Ergebnis: Diejenigen, die sich schon zuvor besorgt über Elektrosmog geäußert hatten, schliefen nach dem Errichten des Sendemasts objektiv schlechter (später einschlafen, nachts häufiger aufwachen). Verschwiegen wurde: In fünf von zehn Nächten war der Sendemast gar nicht eingeschaltet. Elektrosmog machte also manche krank, selbst wenn er gar nicht da war.
Werden Nebenwirkungen erwartet oder dass sich die Symptome verschlechtern, senkt das unter anderem den Endorphin-Spiegel. Fehlen die Glückshormone kann das dazu führen, dass sich derjenige schlechter fühlt und schmerzempfindlich ist. Ebenso haben Hirnscans ergeben, dass schmerzverarbeitende Hirnregionen aktiviert werden. Das Gehirn spürt Schmerz – für den Betroffenen ist dieser Wirklichkeit.
Erforschung von Nocebo-Effekten ethisch schwierig
Der Nocebo-Effekt ist eine unbeabsichtigte negative Suggestion oder auch selbsterfüllende Prophezeiung. Ein Spezialfall, der auch dem Nocebo-Effekt zugeordnet wird: Der Patient verwendet ein Präparat, dass tatsächlich einen Wirkstoff enthält und entgegen aller Wahrscheinlichkeit verschlechtern sich die Symptome oder es treten unerwünschte Nebenwirkungen auf. Neben dem medizinischen Phänomen stellen Nocebo-Studien ein ethisches Problem dar und sind daher nur schwer zu vertreten. Immerhin muss man gesunden Patienten körperliche oder psychische Leiden zumuten. Für Ärzte ist das ein Dilemma: Sie sind gesetzlich verpflichtet ihre Patienten über Nebenwirkungen und mögliche Komplikationen von Behandlungen aufzuklären. Sie haben in ihrem Studium aber sehr wahrscheinlich auch den antiken Grundsatz „primum non nocere“, auf Deutsch „zuallererst einmal nicht schaden“ gelernt.6
Der dunklen Seite keinen Raum lassen
Schlechte Neuigkeiten fördern schlechte Physiologie. Etlichen Krebs-Patienten wird bereits Tage vor der Chemotherapie schlecht oder sie müssen sich auf dem Weg ins Krankenhaus erbrechen. Auch Räume, die die gleiche Farbe haben, wie die, in denen die Chemotherapie durchgeführt wurde, führten in einer Studie, vielfach zu Übelkeit.
Wenn alle Beteiligten, also Ärzte, Familie und der Kranke selbst fest daran glauben, dass die verbleibende Lebensdauer für den Krebspatienten nur noch wenige Monate beträgt, liegt der Verdacht nah, dass es zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung kommt. Manche Menschen sterben daher nicht an Krebs, sondern daran, dass sie glauben an Krebs zu sterben.7
Besonders ängstliche Menschen neigen dazu Aussagen des Arztes oder der Ärztin auf die Goldwaage zu legen. Der Nocebo-Effekt lässt sich verhindern, wenn die Kommunikation zwischen Arzt und Patient stimmt. Dabei sollten negative Vorstellungen bei Patienten vermieden werden („Sie sind ein Risikopatient“). Risiken können auch positiv formuliert werden. Statt zu sagen „Fünf Prozent der Patienten vertragen dieses Medikament nicht“, ist es besser zu sagen: „95 Prozent vertragen dieses Medikament sehr gut“. Steht im Beipackzettel eines Medikaments, dass eine Nebenwirkung nur „sehr selten“ auftritt, bedeutet dies, dass es in Vorstudien bei höchstens einer Person von 10.000 passiert ist. Eine Möglichkeit ist auch, den Patienten über den Nocebo-Effekt aufzuklären und ihm anzubieten, ihn deshalb nicht über Nebenwirkungen zu informieren. Das kann sogar der Gesundheit zuträglich sein, denn Menschen, die ausführlich über lästige aber ungefährliche Nebenwirkungen einer Behandlung aufgeklärt wurden, litten in der Folge auch häufiger unter genau jenen Nebenwirkungen. Das gilt vor allem für ungefährliche Konsequenzen – besteht die Gefahr am Steuer einzuschlafen, besteht Aufklärungspflicht.
Übrigens: Pharmafirmen sind dazu verpflichtet Nebenwirkungen im Beipackzettel aufzuführen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine von ihnen auftritt, ist zum Teil geringer als von einem Blitz getroffen zu werden. Manche Menschen nehmen sie aus Angst davor dennoch nicht ein.
Quellen:
- https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1447285
- https://medicalxpress.com/news/2018-12-placebos.html
- https://www.zeit.de/zeit-wissen/2012/02/Dossier-Noceboeffekt
- https://www.huffingtonpost.de/lothar-seiwert/ticke-ich-noch-richtig_b_5693650.html
- https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/20737608
- https://www.aerzteblatt.de/archiv/147589/Nocebo-Die-dunkle-Seite-der-menschlichen-Einbildungskraft
- https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/nocebo-effekt-wenn-der-arzt-mit-worten-toetet-1.1410542-2
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