Unsere Erwartungen haben enormen Einfluss auf unsere Lebensqualität. Dies umfasst nicht nur unsere Emotionen und Fähigkeit Ziele zu erreichen, sondern auch körperliche Gesundheit und Genesung. Dieses Phänomen ist allgemein unter dem Namen Pygmalion-Effekt bekannt, siehe auch: Der Priming Effekt – Teil II. In Bezug auf Gesundheit spricht man meist vom Placebo-Effekt – Placebopillen und Placebooperationen. Aber die wenigsten Menschen wissen, wie weit der Placeboeffekt wirklich geht…
Das Placebo – eine unterschätzte Kraft
Der Begriff Placebo kommt aus dem lateinischen und bedeutet Ich werde gefallen. Als Placebo-Effekte bezeichnet man alle positiven psychischen und körperlichen Reaktionen, die nicht auf die spezifische Wirksamkeit einer Behandlung (oder Substanz) zurückzuführen sind, sondern auf den psychosozialen Kontext der Behandlung (oder Substanz).
Wenn Placebos Substanzen und Behandlungen sind, von denen selbst keine wirksamen Effekte ausgehen, muss die Ursache der beobachteten Wirkung in der Erwartung des Klienten und/oder Behandlers liegen.
Placebos in Forschung und Praxis
Der Placebo-Effekt ist naturgemäß in der Wirksamkeitsprüfung von Medikamenten ein wichtiger Einflussfaktor. Um die Substanzwirksamkeit einzuschätzen, muss man die Placebo-Wirkung raus rechnen. Inzwischen ist es beim Studiendesign Standard mit drei Gruppen, möglichst im Doppelblindversuch, zu arbeiten. Neben der Versuchsgruppe mit echtem Medikament und einer unbehandelten Kontrollgruppe gibt es eine Gruppe, die mit einem Placebo behandelt wird.
Umgekehrt wird natürlich auch die positive Kraft von Ärzten und Pflegern bewusst und gezielt eingesetzt. Bei vielen alltäglichen Erkrankungen und Beschwerden machen Placebo-Effekte einen großen Teil der Wirksamkeit aus.
Kopfschmerztabletten ohne Nebenwirkungen
Bei Migräne haben Placebos einen bemerkenswerten Vorteil für Kinder und Jugendliche. Im Rahmen einer Studie1 zeigten sich deutliche Vorteile der Gabe von Placebos gegenüber zweier gängiger Medikamenten zur Kopfschmerzprophylaxe bei Menschen zwischen 11 und 17. Sowohl in Wirksamkeit als auch Verträglichkeit schnitten die Medikamente Amitriptylin (ein trizyklinisches Antidepressivum) und Topiramat (ein Antieleptikum), die sich als wirksam bei Erwachsenen herausstellten, bei jungen Menschen deutlich schlechter als ein Placebo ab. An der Studie nahmen 361 Kinder teil, die durchschnittlich an 11 Tagen in vier Wochen unter Kopfschmerzen litten. In der Placebo-Gruppe berichteten 61% der Patienten von einer Reduktion der Schmerzen um mehr als die Hälfte. Bei den Medikamenten Amitriptylin und Topiramat waren es nur 52% bzw. 55% der Probanden. Dazu kommen die Nebenwirkungen der Medikamente: Amitriptylin verursachte im Vergleich zur Placebo-Gruppe doppelt so häufig Müdigkeit und einen trockenen Mund; es zeigten sich in der Amitriptylin-Gruppe bei drei Patienten starke Gemütsveränderungen, ein Patient erlitt unter Amitriptylin eine schwere Synkope (plötzliche Ohnmacht). Topiramat löste bei 31% der Teilnehmer Kribbeln oder Taubheitsgefühle (z.B. eingeschlafenes Bein) aus, unter dem Einfluss des Placebos berichteten nur 8% der Probanden davon. In der Topiramat-Gruppe unternahm ein Patient einen Suizidversuch. Nach einer Zwischenauswertung der Ergebnisse wurde die Studie vorzeitig abgebrochen (und nicht das Medikament vom Markt genommen). Topiramat ist zur Behandlung von Kopfschmerzen bei Jugendlichen im Alter von 12 und 17 in den USA zugelassen. In Deutschland ist es jedoch nicht zur Prävention von Migräne empfohlen.
Übrigens wirken Placebosubstanzen besser2, wenn sie:
- nicht gut schmecken (bitter wirkt besser als süß)
- kompliziert anzuwenden sind (z.B. 3x täglich 20 Minuten vor dem Essen mit 100ml Wasser)
- die richtige Farbe haben (z.B. machen rote Pillen wach, blaue beruhigen, grüne Tabletten vertreiben leichter Ängste, gelbe Tabletten sind besonders wirksam bei Depression und Weiß hilft bei Magenschmerzen)
- in besonderer Größe oder Menge zu sich genommen werden (mehrere oder große Tabletten) oder sie eine besondere Form haben (z.B. Vigra)
- als Injektion verabreicht werden, ansonsten wirken Kapseln besser als Tabletten – am besten wirken natürlich Operationen oder gefärbte Injektionen und an wenigsten Inhalationen und Salbenverbände
- den Namen eines bekannten Herstellers und/oder Wirkstoffs aufgedruckt haben
- einen sehr hohen Preis haben
- kompetent verordnet werden (Arzt im Kittel, der sehr kompetent schaut).
Allgemein wird angenommen, dass die Wirkung von Arzneimitteln zu 20% bis 90% durch Placebo-Effekte entsteht.
Knieoperation – oder Placebo?
In den letzten 20 Jahren wurden einige interessante Studien zur Wirksamkeit von Knieoperationen im Vergleich zu Placebooperationen durchgeführt. Zum Beispiel wurde in fünf Kliniken in Finnland an 146 Patienten mit degenerativem Riss des medialen Meniskus nach dem Zufallsprinzip entweder eine arthroskopische partielle Meniskektomie (teilweise Meniskusentfernung – Standardbehandlung von degenerativen Meniskusschäden) oder eine Scheinoperation vorgenommen3 – mit dem Ergebnis, dass die partielle Meniskektomie die Beschwerden der Patienten nach einem Jahr nicht besser als eine Scheinoperation gelindert hat.
Eine andere Studie beschäftigt sich mit der Wirksamkeit von arthroskopischer Lavage (Wäsche) und Débridement (Wundreinigung) gegenüber einer Placebooperartion. Diese Eingriffe werden häufig empfohlen, wenn eine medikamentöse Therapie die Schmerzen der Arthrose im Knie nicht lindert. 2002 untersuchten J.Bruce Moseley und Kimberley O‘ Malley in einer Studie die Wirksamkeit dieser Operationen gegenüber Placebooperationen bei Patienten mit Arthrose4. Insgesamt 180 Patienten mit Arthrose des Knies nahmen an der Studie teil und wurden zufällig auf eine von drei Gruppen verteilt (arthroskopische Lavage, arthroskopische Débridement oder Placebo-Gruppe). Die Patienten in der Placebo-Gruppe erhielten Hautschnitte und unterzogen sich einem simulierten Eingriff ohne Arthroskopie. Weder Patienten noch Prüfer der Ergebnisse wussten von der Gruppeneinteilung. Über einen Zeitraum von zwei Jahren sollten die Teilnehmer an mehreren Punkten ihr Befinden auf Skalen für Schmerz und Funktion bewerten. Zusätzlich gab es einen objektiven Test des Gehens und Treppensteigens.
Das Ergebnis: Zu keinem Zeitpunkt berichteten die Interventionsgruppen über weniger Schmerzen oder eine bessere Funktion als die Placebo-Gruppe. Die Ergebnisse nach einem arthroskopischen Eingriff waren nicht besser als nach einem Placebo-Eingriff.
Placebo und Schmerz
Ende des zweiten Weltkriegs stand ein Chirurg der US-Army, Henry Beecher, vor einem Problem: Er hatte kein Morphin mehr, um einen schwer verwundeten Soldaten auf eine Operation vorbereiten zu können. Er befürchtete ohne den Schmerzblocker einen Kreislaufschock. Die assistierende Krankenschwester injizierte dem Patienten daraufhin eine Kochsalzlösung. Die Linderung trat ein, ganz ähnlich zu der Behandlung mit Morphin. Der Patient beruhigte sich und verspürte während der Operation kaum Schmerz. Beecher stellte bald fest, dass allein die Erwartung einer Heilung heilsam ist.5
In einer Studie untersuchte Ulrike Bingel mit ihren Kollegen 2009 die neuronalen Wirkungen schmerzlindernder Placebos. Um die inneren Prozesse beobachten zu können, lagen die Probanden in der Röhre eines Magnetresonanztomografen, während ihr Arm an zwei Stellen einem Hitzereiz ausgesetzt wurde. An beiden Stellen wurde zuvor eine Creme auf einen Teil der betroffenen Hautpartie aufgetragen. Den Teilnehmern der Studie wurde gesagt, dass die eine Creme ein hochwirksames Analgetikum enthalte und dass die an einer anderen Stelle aufgetragene Creme, lediglich eine Kontrollcreme sei. In Wirklichkeit war es aber in beiden Fällen die gleiche, wirkstofffreie Creme!
Als die mit der Kontrollcreme behandelte Stelle gereizt wurde, feuerten die Neuronen im Rückenmark wie erwartet stark. Diese Reaktion fiel deutlich schwächer aus, als die Stelle gereizt wurde, die mit der „Schmerzlinderungscreme“ behandelt wurde, auch das subjektive Schmerzempfinden wurde als geringer beschrieben. Das Spannende daran war, dass das Placebo bereits im Hinterhorn des Rückenmarks (dorsaler Anteil der grauen Substanz des Rückenmarks), also nicht erst im Gehirn, seine Wirkung, aufgrund der Wirksamkeitserwartung, entfaltet.6
Im Rahmen einer anderen Studie zu den biochemischen Mechanismen beim Placebo-Effekt, insbesondere bei Analgesie, konnte der italienische Forscher Fabrizio Benedetti zeigen, dass die Gabe von Placebos schmerzlindernd wirkt7. Es zeigte sich, dass allein die Erwartung ein Analgetikum (schmerzstillendes Mittel) verabreicht zu bekommen, bereits Neurotransmitter freisetzt. Diese besetzen die gleichen Rezeptoren, wie ein zuvor verabreichtes Analgetikum. In diesem Versuch wurde deutlich, dass die Wirkung von Placebos auch auf einer Freisetzung von Neurotransmittern, die an entsprechende Rezeptoren koppeln, beruht und nicht nur auf subjektiver Schmerzwahrnehmung.
Die Studie zeigte einen weiteren interessanten Fakt: Wurde das Placebo gegeben, nachdem in Versuchen zuvor mehrmals Morphin (ein Opioid) gegeben wurde, wirkte das Placebo wie Morphin. Wurde das Placebo allerdings gegeben, nachdem in Versuchen zuvor Ketorolac (ein Endocannabinoid) gegeben wurde, wirkte das Placebo wie Ketorolac. Das heißt, das Placebo wirkte einmal wie ein Opioid und besetzte entsprechende Rezeptoren der Nerven und das andere Mal wie ein Endocannabinoid und wirkte neurobiologisch an ganz anderen Stellen – dabei war es das gleiche Placebo 😉
Selbsterfüllende Prophezeiungen
In einer anderen Studie konnte der Blutdruck aller Testpersonen gesenkt werden – nur dass ein Teil von ihnen ein Medikament einnahm, das den Blutdruck eigentlich erhöht…
Das wird nur noch übertroffen von einer, von Paul Watzlawick8 berichteten, Begebenheit in einem österreichischen Landeskrankenhaus, Anfang des letzten Jahrhunderts: Dort liegt ein schwerkranker Mann im Sterben und die behandelnden Ärzte haben ihm wahrheitsgemäß mitgeteilt, dass sie seine Krankheit nicht diagnostizieren können und ihm daher nicht helfen können. Sie haben ihm ferner gesagt, dass ein berühmter Diagnostiker das Spital in den nächsten Tagen besuchen und vielleicht imstande sein wird, die Krankheit zu erkennen. Ein paar Tage später kommt der Spezialist wirklich an und macht seine Runde. Am Bett des Kranken angekommen, wirft er nur einen flüchtigen Blick auf ihn, murmelt ‚moribundus’* und geht weiter. Einige Jahre später sucht der Mann den Spezialisten auf und sagt ihm: „Ich wollte Ihnen schon längst für Ihre Diagnose danken. Die Ärzte sagten mir, dass ich Aussicht hätte, mit dem Leben davonzukommen, wenn Sie meine Krankheit diagnostizieren könnten, und im Augenblick, da Sie ‚moribundus‘ sagten, wusste ich, dass ich es schaffen werde.“
*) ‚moribundus‘ bedeutet: dem Tode geweiht…
Natürlich finden wir den Placebo-Effekt auch in Coachings und Psychotherapien. Ein Klient, der von der Wirksamkeit einer Intervention überzeugt ist, erzielt deutlich schneller Fortschritte in der Therapie. Und (!) ein von seinen Methoden überzeugter Therapeut, hat bei seinen Klienten ebenfalls einen schnelleren Therapieerfolg. Diesen Effekt bezeichnen einige Autoren als curabo effect („Ich werde heilen“).
Mehr über Wirkfaktoren in Coaching & Therapie erfährst du in unserem nächsten Artikel und in unserer Coaching-Ausbildung.
Quellen:
- Publikation im New England Journal of Medicine (2016; doi: 10.1056/NEJMoa1610384) und https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/71163/Migraene-Placebos-in-Vergleichsstudie-bei-Kindern-mit-ausgezeichneter-Wirkung
- Die Farbe des Medikaments – https://www.netdoktor.de/medikamente/medikamenten-farbe
- https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/57061/Meniskusschaden-Arthroskopische-Operation-in-Studie-oft-ohne-Vorteil
- „A Controlled Trial of Arthroscopic Surgery for Osteoarthritis of the Knee“ von J.Bruce Moseley, M.D., Kimberley O‘ Malley et al. von 2002
https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa013259 - Scheinmedikamente: Wie Placebos wirken – https://www.spektrum.de/news/wie-placebos-wirken/1537269
- Scheinmedikamente: Wie Placebos wirken – https://www.spektrum.de/news/wie-placebos-wirken/1537269
- https://www.pharmazeutische-zeitung.de/ausgabe-51522012/scheinmedikament-mit-echter-wirkung
- Münchhausens Zopf (1988) – Paul Watzlawick
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