In unserer Artikelreihe über den Placebo-Effekt haben wir vor einigen Monaten darüber geschrieben, wie Erwartungen unsere Gesundheit beeinflussen und den Heilungsprozess bestärken. Zur Erinnerung: Unter dem Placebo-Effekt versteht man alle positiven psychischen und physischen Reaktionen, die nicht auf die spezifische Wirksamkeit einer Behandlung (oder Substanz) zurückzuführen sind, sondern auf die bewusste oder unbewusste Wirksamkeitserwartung an die Behandlung (oder Substanz). Außerdem haben wir verschiedene Anwendungsmöglichkeiten von Placebos in Coaching und Psychotherapie vorgestellt.
Anlass für einen weiteren Artikel zum Thema Placebos ist für uns eine aktuelle Metastudie zur Wirkung von Antidepressiva im Vergleich zu Placebos bei Depressionen, die von Forschern aus dem Cochrane-Netzwerk durchgeführt wurde.
Cochrane ist ein internationales Netzwerk, das sich das Ziel gesetzt hat, die wissenschaftlichen Grundlagen für Entscheidungen im Gesundheitssystem zu verbessern.1 Um dieses Ziel zu erreichen, werden von den Cochrane-Forschern, zahlreiche Metastudien erstellt und ausgewertet. Metastudien, wie die in diesem Artikel vorgestellten, fassen die Ergebnisse einzelner Forschungsarbeiten in Bezug auf bestimmte Fragestellungen systematisch zusammen. Dadurch ergibt sich ein repräsentativeres Bild, denn durch die Betrachtung vieler Studien wird die Stichprobe größer und Ergebnisverzerrungen und Designfehler einzelner Studien werden reduziert.
Antidepressiva sind ein gutes Geschäft
Antidepressiva sind die weltweit am häufigsten verschriebenen Psychopharmaka. Nach dem Arzneiverordnungsreport 2018 hat sich die Anzahl der Verschreibungen von Antidepressiva in Deutschland in den letzten 10 Jahren verdoppelt. So wurden 2017 allein den gesetzlich Versicherten 1,5 Mrd. Tagesdosen (!) Antidepressiva verordnet.2
Wirkung von Antidepressiva fraglich
Die Wirkung und der Nutzen von Antidepressiva sind häufig Gegenstand von Diskussionen und Kritik. Dabei steht immer wieder die Frage im Raum, wie wirksam Antidepressiva im Vergleich zu Placebos sind.
2018 untersuchten Forscher der Universität in Oxford im Rahmen einer Metaanalyse über 522 Studien (116.477 Teilnehmer) zur Wirksamkeit von Antidepressiva und kamen zu dem Ergebnis, dass 21 Antidepressiva besser wirken als Placebo.3 Die Ergebnisse dieser Metastudie wurden jedoch kontrovers diskutiert, u. a. dahingehend, dass sie methodische Mängel und Limitierungen aufweisen würde, die entweder nicht erkannt oder unterschätzt worden sind und darüber hinaus keine klare Aussage über die Höhe der Wirksamkeitsdifferenz gemacht werden könne.
Diese Ergebnisse der Oxfortstudie wurden 2019 von Forschern aus dem Cochrane-Netzwerk überprüft, jedoch bereinigt um die bekannten Mängel der ersten Studie. Insgesamt zeigen diese neuesten Studienergebnisse, dass die Wirkung von Antidepressiva unklar ist und dass diese, wenn überhaupt, nur minimal besser abschneiden als Placebos.4
In diese Metastudie wurden auch unveröffentlichte Studien miteinbezogen. Ein interessanter Aspekt dabei war, dass die Effektstärke von Antidepressiva in veröffentlichten Studien höher war, als in unveröffentlichten Studien. Ein großes Problem von Antidepressivastudien besteht darin, dass es meist darum geht, einen möglichst signifikanten Effekt der Medikamente festzustellen. Studien, die zu einem anderen Ergebnis kommen, werden oft nicht veröffentlicht.
Gerade unter dem Gesichtspunkt der hohen Anzahlen an Verschreibungen und Einsatzgebiete von Antidepressiva (u. a. auch bei Schlafstörungen, Angststörungen und Migräne) sind diese Ergebnisse ernüchternd. Darüber hinaus ist wichtig zu verstehen, dass Antidepressiva keine Depressionen heilen, denn sie lösen weder psychische noch soziale Probleme.
Andere Therapien oft wirksamer
Es gibt zudem eine Vielzahl an nichtmedikamentösen Hilfen, Interventionen und Therapien, deren Wirksamkeit belegt ist. Diese haben häufig weniger Nebenwirkungen, binden den Patienten aktiv mit ein und sind nicht allein auf Symptomreduktion ausgerichtet, sondern auf Heilung. Dazu zählen Psychotherapie, Sporttherapien, Musiktherapie und Kunsttherapie.5
1,5 Mrd. Placebos pro Jahr
Wie eingangs beschrieben, basiert die Wirkung von Placebos auf der Wirksamkeitserwartung des Patienten. Was der Patient erwartet und glaubt, hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Genesungsprozess. Es ist die bewusste oder unbewusste Hoffnung, die Menschen dazu veranlasst, zu heilen oder sich zu verändern.
Die Studie aus dem Cochrane Netzwerk ist ein weiteres Indiz für den gewinnbringenden Einsatz von Placebos in Coaching und Therapie – denn möglicherweise werden Placebos bereits mit 1,5 Mrd. Tagesdosen pro Jahr an gesetzlich versicherten Personen in Deutschland verabreicht.
Quellen:
1 Cochrane Deutschland; URL: https://www.cochrane.de/de
2 Science Blogs, Kuhn, Joseph: „Arzneiverordnungs-Report 2018: Antidepressiva weiter auf dem Vormarsch“ (22.09.2018); URL: http://scienceblogs.de/gesundheits-check/2018/09/22/arzneiverordnungs-report-2018-antidepressiva-weiter-auf-dem-vormarsch (abgerufen: 30.09.2019).
3 Stallmach, Lena: „Antidepressiva: Sie wirken laut einer Studie kaum besser als Placebos, dennoch werden sie massenweise verschrieben“ (25.07.2019); URL: https://www.nzz.ch/wissenschaft/antidepressiva-sie-wirken-laut-einer-studie-kaum-besser-als-placebos-dennoch-werden-sie-massenweise-verschrieben-ld.1495251 (abgerufen: 30.09.2019).
4 Munkholm, Klaus, Paludan-Müller, Asger Sand, Boesen, Kim: “Considering the methodological limitations in the evidence base of antidepressants for depression: a reanalysis of a network meta-analysis”; URL: https://bmjopen.bmj.com/content/9/6/e024886.abstract (abgerufen: 30.09.2019).
5 DGSP: „Annahmen und Fakten: Antidepressiva“ (2019); URL: https://www.dgsp-ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/Stellungnahmen/DGSP_FA_Psychopharmaka_Annahmen_und_Fakten_Antidepressiva_2019.pdf (abgerufen: 30.09.2019).
0 Kommentare