28. April 2013

Die Schlussfolgerungsleiter

Die sieben Stufen von der Wahrnehmung zum Handeln

Nachdem ich in meinem letzen Artikel das ABC Modell nach Albert Ellis beschrieben habe, möchte ich heute die “Leiter der Schlussfolgerungen” (englisch: ladder of inference) von Chris Argyris vorstellen. Die Kenntnis dieses Modells ist in vielen Bereichen des Lebens und der zwischenmenschlichen Interaktion sehr hilfreich.

Wir leben in einer Welt selbstgeschaffener Überzeugungen, die wir in der Regel nicht neutral überprüft haben. Wir nehmen etwas wahr, versuchen es uns zu erklären, treffen Annahmen, fällen Urteile und basierend auf all dem handeln wir. Frühere Erfahrungen beeinflussen dabei, wie wir die Welt heute wahrnehmen. All das geht schnell und automatisch, meistens ohne, dass wir es überhaupt mitbekommen. Außerdem ist all das, was uns zu einem Ergebnis führt, selbstverständlich wahr, denn

  • unsere Glaubenssätze sind wahr
  • die Wahrheit unserer Schlussfolgerungen ist offensichtlich
  • unsere Annahmen basieren ja auf realen Daten
  • die Daten, die wir wahrgenommen haben sind die Wirklichkeit

Aber wie wahr ist das, was wir für wahr halten, eigentlich? Nach dem Modell der ladder of inference des Harvard-Professors Chris Argyris, laufen in unserem Gehirn, wann immer wir in der Welt um uns herum etwas wahrnehmen, in schneller Folge die 7 unten beschriebenen Schritte ab.
Es lohnt sich, sich diese 7 Stufen einmal bewusst zu machen, denn unser Gehirn durchläuft diese Schritte im Laufe des Tages tausende Male, meist ohne das wir es mitbekommen und kommt dabei gelegentlich zu Ergebnissen, die es wert sind hinterfragt zu werden.

Ladder of inference

Die 7 Schritte der ladder of inference

  1. Wahrnehmung: Dein Gehirn erhält über die Sinneskanäle eine Abbildung der Realität, noch steht nichts im Vordergrund und hat nichts Bedeutung.
  2. Filter/Selektion: Auf der Basis früherer Erfahrungen und deiner momentanen Filtereinstellungen wird ein (großer) Teil dieser Daten verworfen, andere werden dafür in den Vordergrund gestellt.
  3. Interpretation: Dein Gehirn interpretiert die gefilterten Informationen im Rahmen kulturell und individuell geprägter Regeln, um das Wahrgenommene zu verstehen und zu interpretieren, was es bedeutet.
  4. Beurteilung: Nun beginnst du Annahmen auf der Grundlage deiner Interpretation zu entwickeln. Du erzählst dir Geschichten, um das Wahrgenommene in einen für dich schlüssigen und verstehbaren Zusammenhang zu betten – die „Fakten“ werden immer mehr um Fantasie ergänzt.
  5. Schlussfolgerung: Basierend auf der Geschichte, die du nun entwickelt hast, kommst du zu Schlussfolgerungen, evtl. begleitet von emotionalen Reaktionen.
  6. Überzeugungsbildung: Deine Einstellung und dein Urteil über die Situation bildet sich und dies hältst du natürlich, wie alles andere vorher auch, für wahr.
  7. Handlung: Basierend auf dem Vorherigen, triffst du eine Entscheidung und handelst – typischerweise mit dem starken Gefühl im Recht zu sein.

Übrigens beeinflussen die in Schritt 6 gebildeten Überzeugungen deine Filtereinstellungen in Schritt 2. Zukünftige Ereignisse (oder das aktuelle Ereignis bei erneuter Betrachtung) werden anders gefiltert. Daher ist es oft so, dass je länger jemand über etwas nachdenkt, ohne neue Informationen zu bekommen, er es immer mehr für wahr hält.

Die Enden der Leiter, Wahrnehmung und Handlung, sind äußerlich sichtbar, die Schritte dazwischen laufen sehr schnell, für niemanden sichtbar, innerlich ab.

Die Leiter in Action

Das folgende Video „Rethinking Thinking – Trevor Maber“ aus der Reihe TEDeducation beschreibt den Sachverhalt.

Stell dir vor, du bist mit dem Auto auf dem Weg zum Einkaufen, hast einen freien Parkplatz vor dir und willst gerade einparken. Plötzlich kommt jemand angerast und schnappt dir vor deiner Nase deinen Parkplatz weg. Was läuft nun in dir nach dem Modell der „ladder of inference“ ab?

  1. Zunächst mal sind da ganz viele Sinnesreize, die du wahrnimmst, noch steht nichts im Vordergrund und nichts hat Bedeutung. Der Sonnenschein, das Vogelgezwitscher, das Werbeplakat, das andere Auto…
  2. Dann wird der Filter aktiv. Das heißt der Sonnenschein, das Vogelgezwitscher und das Werbeplakat vor dir werden ausgeblendet, stattdessen nimmst du das andere Auto wahr, deine Hände die das Lenkrad umklammern und du siehst kurz das Gesicht des anderen Fahrers, bevor er sich abwendet.
  3. Haben dir deine Eltern nicht schon beigebracht, dass es wichtig ist zu warten, bis man dran ist. Und jetzt kommt dieser Kerl, drängelt sich vor und klaut dir deinen Parkplatz!
  4. “Was für ein ungehobelter Dummkopf,” könntest du denken. „Dem haben seine Eltern wohl nichts beigebracht! Der hätte mich doch sehen müssen. Wahrscheinlich passt der nie auf. Oder er hält sich für was besseres, klar!” 
  5. Ganz klar, der Typ ist ein rücksichtsloser Egoist, wird Zeit, dass dem mal jemand die Meinung sagt. Du fühlst dich sauer und frustriert. Du bist im Recht! 
  6. Das passiert dir nicht nochmal. Beim nächsten Mal gibst du Gas und sicherst dir die Parklücke. 
  7. Du kommst hinter ihm zum Stehen, hupst, kurbelst die Scheibe runter und willst ihm gerade ordentlich die Meinung sagen… 

Doch da kommt der andere Fahrer auf dich zu und entschuldigt sich. Er hatte eben einen Anruf seiner schwangeren Frau erhalten, die offenbar unerwartet ihre Wehen bekommen hat und nun dringend ins Krankenhaus muss.
Auf einmal nimmst du die Situation ganz anders wahr, und nun ist es dir unangenehm, dass du eben noch so sauer warst. Denn nun nimmst du durch die wenigen ausgetauschten Worte die Welt und Leiter des anderen Fahrers wahr.
Die Sprossen, die du für dich gebildet hattest (Selektion, Interpretation, Beurteilung, etc.) sind nun nicht mehr stimmig.

Den Autopiloten hinterfragen

Eigentlich hörte sich der siebenstufige Prozess doch vernünftig und funktional an. Und in vielen Fällen funktioniert die „ladder of inference“ auch sehr gut. Allerdings sieht man an obigem Beispiel eben auch, warum wir diesem automatischen Ablauf nicht immer blind vertrauen sollten.

Dazu zwei wichtige Aspekte:

  1. Ein Irrtum auf einer der Leiterstufen speist die folgenden Stufen und kann zu starken und unangebrachten Reaktionen führen.
  2. Innerhalb der Leiter gibt es eine selbstverstärkende Feedbackschleife. Die Schlussfolgerungen und Meinungen, die du auf den oberen Sprossen gewonnen hast, beeinflussen deine Filter. Du achtest immer mehr auf das, was zu deinen Annahmen passt. Wenn du nun länger in einer Situation bist oder sie wiederholt durchdenkst, werden sich deine Schlussfolgerungen und Meinungen durch das Feedbacksystem weiter festigen und verstärken. Wenn du irgendwo im Prozess einen Fehler hattest und die Situation falsch bewertet oder mit ungünstigen Annahmen gearbeitet hast, wird aus der Leiter schnell ein Teufelskreis.

Da du nun diese Leiter im Kopf kennst und weißt, wie dein Verstand zu manchen seiner Urteile und Entscheidungen kommt, kannst du dieses Wissen jetzt für dich nutzen, um dieser Falle zu entgehen.

Zwei systematische Schritte sind dafür sehr hilfreich:

  • Überprüfe deine Annahmen und Schlussfolgerungen.
  • Ändere deine Filter, in dem du bewusst Ausschau nach Wahrnehmungen und Informationen hälst, die deiner Interpretation, Beurteilung… widersprechen.

Wenn du das nächste Mal bemerkst, wie du auf ein Ereignis automatisch reagierst, dann achte einmal ganz bewusst auf “deine Leiter”:
Frage dich, welche Glaubenssätze gerade zum Tragen kommen und wo du sie her hast.
Würdest du mit anderen Annahmen zu einem anderen Ergebnis kommen?

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