Wir leben in einer Zeit der Selbstoptimierung: „Mindset-Hacks“, „5-Schritte-Transformation zum Glück“, „Innere Freiheit in 7 Tagen“. Solche Versprechen, schnell die beste Version seiner selbst zu werden, finden sich überall – mit Kreditkarte bezahlbar und sofort verfügbar.
Wenn der gewünschte Effekt jedoch ausbleibt, wird das Scheitern häufig der Person selbst zugeschrieben. Das kann Scham auslösen und den Druck verstärken, es „diesmal richtig“ zu machen. So entsteht leicht ein Kreislauf, in dem man wieder das nächste Schnell-Programm bucht, in der Hoffnung, dass es diesmal funktioniert.
Wachstum folgt jedoch einem anderen Rhythmus. So wie ein Kirschbaum nicht an einem Tag in voller Blüte steht, sondern in Zyklen wächst, braucht auch menschliche Entwicklung Zeit – und den nährenden Boden von Beziehung und Sicherheit. Dass eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Therapeuten und Klienten den Therapieerfolg maßgeblich beeinflusst, bestätigt auch die Psychotherapieforschung von Klaus Grawe.
In unserer Artikelreihe hast du schon die Polyvagal-Theorie und das Stress-Toleranzfenster kennengelernt und einiges über die körperorientierte Arbeit mit dem Nervensystem erfahren. In diesem letzten Teil unserer Reihe zu Körpertherapie und körperorientierter Arbeit gibt dir unsere NLP-Trainerin Marion Hödl einen Einblick in die Arbeit mit Somatic Experiencing und ihre Erfahrungen mit dieser körperorientierten Therapiemethode. Sie zeigt, wieso die Arbeit mit der Körperweisheit für sie als Trainerin und Coach so eine bereichernde Erweiterung in der Begleitung von Menschen ist.
In einer Fortbildung begegnete ich erstmalig Somatic Experiencing und war einfach nur geflasht davon, wie tief die Prozesse gingen. In Lehrvideos des Somatic Experiencing-Begründers, Peter Levine, sah ich, wie er mit Ray, einem Veteranen mit schwerster PTBS und Tourette-ähnlichen Zuckungen arbeitete. Menschen wie Ray werden oft als unheilbar klassifiziert und mit Medikamenten abgespeist. Bei Peter Levine bekommen sie keine Medikamente, sondern einen sicheren Raum. Sie müssen nicht von ihrem Kriegstrauma erzählen – er kommuniziert mit ihrem Körper und lädt ihn ein, im Hier und Jetzt das zu Ende zu führen, was damals im Schock nicht ausgelebt werden konnte.
Somatic Experiencing ist für mich Teil einer Slow-Food-Bewegung in der Psychotherapie, die sich aus meiner Sicht seit ein paar Jahren als Gegenpol zum „Schnell-Schnell“ moderner Veränderungsarbeit etabliert. Somatic Experiencing erinnert daran, dass echte Integration nicht nur ein wohlwollendes Gegenüber braucht, sondern auch Sicherheit für das Nervensystem, Präsenz und kleine Schritte.
Was ist Somatic Experiencing (SE)?
Somatic Experiencing (SE) wurde von dem amerikanischen Psychologen Dr. Peter A. Levine entwickelt und ist ein körperorientierter Therapieansatz zur Lösung von Stress- und Traumafolgen. Peter Levine sieht im Trauma nicht das damals geschehene Ereignis, sondern „…die im Nervensystem gebundene Energie, die nicht entladen werden konnte.“ (aus Sprache ohne Worte)
Bei Gefahr aktiviert der Körper ein Überlebensmuster – Kampf, Flucht oder Erstarrung. Wenn diese Reaktionen nicht abgeschlossen oder anschließend abgebaut werden können (so wie eine Gazelle nach einem Löwenangriff den Schreck abschüttelt), bleibt Energie im System gebunden. Das kann sich auf unterschiedliche Weise zeigen, etwa als emotionale Probleme bis hin zu körperlichen oder psychosomatischen Belastungen.
Somatic Experiencing setzt nicht auf erneutes Erzählen oder Wiedererleben der Geschichte, sondern auf das feine Spüren und schrittweise Vervollständigen dieser unterbrochenen Reaktion – damit der Körper das zu Ende führen kann, was damals nicht möglich war, und neue Erfahrungen im Körper zu schaffen. In einer SE-Sitzung wird der Coachee oder Klient daher Erkunder:in genannt, weil er oder sie die innere Erfahrung erforscht. Der Therapeut oder Coach begleitet diesen Prozess und wird entsprechend Begleiter:in genannt. Die Prinzipien von SE lassen sich nicht nur zur Aufarbeitung traumatischer oder prägender Ereignisse anwenden. Sie fördern grundsätzlich die Fähigkeit, mit Stress, Überforderung und intensiven Emotionen regulierend umzugehen.
Die folgenden Abschnitte geben Einblicke in zentrale Elemente dieser Arbeit. Wenn du die Wirkung von SE ausprobieren möchtest, kannst du die beschriebenen Übungen zur Selbstregulation weiter unten ausprobieren.
1. Sicherheit und Ressourcen – Heilung beginnt mit Sicherheit.
Wie in vielen traumatherapeutischen Ansätzen werden im Somatic Experiencing zu Beginn jeder Sitzung, oder auch als Übung für den Alltag, Ressourcen aktiviert: vor allem körperliche oder emotionale Zustände, die Sicherheit im Hier und Jetzt, Neutralität oder etwas Positives vermitteln. Das kann der feste Boden unter den Füßen sein, der Blick auf etwas Beruhigendes oder Schönes, die warme Tasse in den Händen oder die unterstützende Beziehung zum Gegenüber.
Wie könnte das konkret aussehen?
Ein Klient kommt in den Praxisraum, setzt sich gestresst auf den Stuhl und erzählt von seinem Montagmorgen – ein geplatzter Termin, das Telefon klingelte ununterbrochen und dann war auch noch der Kaffee alle. Sein Stresspegel war eine gefühlte 10 von 10 auf der Belastungsgradskala.
Anstatt nun direkt auf den Inhalt einzugehen, würde der/die Begleiter:in zuerst einen Raum für Sicherheit und Regulation des Nervensystems schaffen:
„Ich höre, dass heute schon viel bei dir los war. Lass uns einmal gemeinsam ankommen. Nimm dir einen Moment… um deine Füße auf dem Boden zu spüren… und erlaube deinem Nervensystem…, sich langsam im Raum zu orientieren… vielleicht möchtest du noch etwas an deiner Sitzposition… oder dem Abstand zu mir verändern …“
Auch wenn es wie Zeitverschwendung wirken mag, entsteht gerade durch das Zeit-Nehmen für die Orientierung im Raum und die langsame Begegnung mit dem Gegenüber mehr und mehr Sicherheit im Körper, noch bevor Worte fallen. Sich mit den Augen und über den Bodenkontakt oder das Spüren der Lehne im Raum zu orientieren, beruhigt nachweislich das Nervensystem.
2. Pendulation und Shifting – das Schwingen zwischen Anspannung und Entspannung
Wenn Kinder auf dem Spielplatz etwas Neues entdecken, rennen sie oft direkt darauf zu, kehren dann aber zu ihrer Bezugsperson zurück. Sie holen sich Sicherheit, um dann erneut auf ihr Ziel zuzugehen. Dieses rhythmische Wechselspiel findet auch bei Erwachsenen statt und ist die Basis gesunder Selbstregulation und somit auch für gesunde Weiterentwicklung – sie wird im Somatic Experiencing Pendulation genannt.
Auch im Coaching oder in der Therapie geschieht Ähnliches: Jemand fasst erstmalig Mut, verändert etwas – und zieht sich wieder dann zurück. Für Begleiter:innen kann das wie ein Rückschritt wirken. Im SE wird das als biologisch sinnvolles Einpendeln gesehen, bis genügend Sicherheit erreicht ist und das neue Element stabil da bleiben kann. SE-Begleiter:innen achten während der Erforschung eines belastenden Themas besonders auf kleine Regulierungszeichen, einen tieferen Atemzug, ein sanftes Lächeln, eine weicher werdende Körperhaltung, und benennen diese. Dadurch wird der Körper eingeladen, von Aktivierung oder Freeze wieder in Richtung Regulation zu pendeln.
Ein persönliches Erlebnis aus meiner Ausbildung:
„Spür mal, wo du gerade am meisten Anspannung wahrnimmst“, sagte meine Begleiterin leise.
„Im Bauch“, antwortete ich, „es zieht sich alles zusammen.“
„Und gibt es irgendwo im Körper einen Ort, der sich neutral oder angenehm anfühlt?“
Ich musste kurz suchen. „Ja … vielleicht die Füße auf dem Boden.“
„Dann bleib für ein paar Atemzüge nur dort“, schlug sie vor.
Nach einer Weile nahm ich wieder die Anspannung wahr und pendelte dann zwischen der Anspannung und dem Kontakt zum Boden hin und her. Da entstand plötzlich eine Wärme in mir.
„Was passiert jetzt?“, fragte meine Begleiterin.
„Es wird plötzlich ganz heiß“, sagte ich überrascht. „Eine Welle läuft den Rücken hoch.“
Ich spürte, wie mein Atem tiefer wurde, der Körper sich weitete, Schweiß ausbrach.
„Ich bin da“, hörte ich ihre Stimme ruhig und klar und spürte, wie sich die emotionale Welle sanft in Entspannung auflöste – genau so wie Peter Levine die natürliche Entladung des Nervensystems beschreibt.
3. Titration – kleine Schritte statt Überforderung
Um nicht überflutet zu werden, wenn gebundene Energie wieder in Bewegung kommt, nähert man sich im Somatic Experiencing belastenden Themen in winzigen, verdaulichen Schritten. Peter Levine übernahm den Begriff Titration aus der Chemie, wo man zwei Substanzen Tropfen für Tropfen mischt, um eine Explosion zu vermeiden. Im SE müssen belastende Situationen bis hin zu Trauma nicht wiedererlebt werden, um sie zu verarbeiten. Aus einem sicheren Zustand heraus (reguliertes Nervensystem) wird „nur“ so lange an das Thema gedacht, bis eine Aktivierung auftritt. Der Erkundende wird dann wieder in einen regulierten Zustand zurückgeführt. Ich stelle mir Titration wie bei einem schwarzen Fleck vor, der mit jedem Lichtimpuls kleiner wird – bis er seine Bedrohung verliert.
In einer Übung begleitete ich Luisa. Sie hatte eine vertrocknete Blume mitgebracht, als Symbol für eine Seite, die sie an sich selbst ablehnte. Wir starteten mit bewusstem Ankommen: Füße auf dem Boden, Atmen, im Raum orientieren, bis spürbar Ruhe eingekehrt war. Dann wandten wir uns der Blume zu. Sofort wurde ihre Stimme leiser, der Atem flacher, ihre Augen suchten Halt im Raum und der Körper spannte sich an, ihr Nervensystem war aktiviert.
Wir sorgten gemeinsam dafür, dass sich ihr Nervensystem wieder beruhigte, sie bewusst den Boden unter den Füßen wahrnahm und bewusst in den Moment zurückkam (Pendeln). Dadurch vertiefte sich ihr Atem, die Schultern sanken. Interessanterweise begann sie unbewusst, die vertrocknete Blume zart zu streicheln. Das spiegelte ich ihr: „Ich sehe, wie behutsam deine Hand gerade die Blume berührt.“
In diesem Moment veränderte sich etwas in Luisa – eine Welle von Weichheit und Berührung ging durch ihren Körper, Tränen kamen. Sie atmete tiefer und sagte: „Ich kann diesen Teil von mir gerade ein bisschen liebevoller betrachten.“
Es war ein kleiner, aber bedeutsamer Schritt – entstanden durch Langsamkeit, Präsenz, Titrieren, Pendeln. Wie so oft im SE bewegten wir uns sehr viel im ressourcevollen, sicheren Bereich und sind nur kurz zum Problemgefühl gependelt.
4. SIBAM – ein Kompass für vollständige Erfahrung
Das SIBAM-Modell beschreibt fünf Kanäle, über die wir eine Erfahrung erleben: das Körperempfinden (Sensation), innere Bilder und Erfahrungen (Image), Verhalten (Behavior), Gefühle (Affect) und die Bedeutung, die wir einer Erfahrung zuordnen sowie Gedanken oder Glaubenssätze (Meaning).
Wenn wir eine belastende Erfahrung machen, können diese Kanäle voneinander getrennt abgespeichert werden. Später kann es z.B. sein, dass ein Bild in uns auftaucht, aber der Körper spürt nichts oder ein Gefühl entsteht, ohne dass wir verstehen, warum. Diese getrennten (fragmentierten) Elemente sollen wieder verbunden werden, sodass sie im Hier und Jetzt vollständig spürbar werden. Manche Coachees haben auch bevorzugte Kanäle (z.B. haben sie starke Körperempfindungen, aber benennen keine Gefühle) und es unterstützt sie bei der gewünschten Veränderung, die nicht genutzten Kanäle miteinzubeziehen (mehr Kanäle, mehr Möglichkeiten!).
Wenn Körper, Bild, Verhalten, Gefühl und Bedeutung wieder miteinander „sprechen“, entsteht ein Zustand, den man Kohärenz nennt. Kohärenz heißt hier: Stimmigkeit im Erleben – ich spüre, sehe, reagiere, fühle und verstehe zugleich. Dadurch bekommt das Nervensystem das Signal, mit dem Thema umgehen zu können, sich regulieren zu können. Wir können SIBAM aber auch zum Erkunden positiver Erfahrungen nutzen, um Ressourcen noch stärker im Hier und Jetzt zu erleben.
Beispiel aus einem Übungscoaching:
Wir erforschten das Unwohlsein einer Kollegin damit, in ihrem aktuellen Proberaum zu musizieren (da andere ihr ungewollter Weise zuhören konnten). Wir erkundeten gemeinsam die SIBAM-Kanäle ihres Problemerlebens – was sie im Körper spürte, welche Bilder auftauchten, wie sie sich verhielt, welches Gefühl damit verbunden war und welche Bedeutung sie dem gab. Nach dem Pendeln zu einer Ressource tauchte ein neues Meaning auf: „Ich bin bei mir, wenn ich musiziere.“ Dadurch veränderten sich auch Körperempfindung, Haltung und Gefühl. Das Üben mit Zuhörenden war nicht mehr belastend für sie.
Eine kleine Veränderung auf einem Kanal kann das ganze System bewegen.
5. Das Tönen des „Wuu“ – der Klang der Regulation
Eine von Levine entwickelte Selbstregulationstechnik ist das Tönen des „Wuu“, ähnlich dem „Om“ im Yoga. Man atmet ruhig ein und lässt beim Ausatmen ein tiefes, vibrierendes „Wuuuuu …“ erklingen, das im Brust- und Bauchraum spürbar wird. Diese Vibration stimuliert den Vagusnerv, der Entspannung und soziale Verbundenheit fördert.
Levine beschreibt, dass das Tönen des „Wuu“ auch unterdrückte Gefühle lösen kann, die lange im Körper festsaßen. Wichtig ist, sich danach Zeit zu nehmen, die Gefühle wahrzunehmen. Viele Menschen berichten danach von innerer Ruhe und Klarheit – als hätte sich der Körper selbst daran erinnert, dass es jetzt sicher ist.
Mini-Übung: Orientierung & Sicherheit im Jetzt
Diese kleinen Übungen dauern nur wenige Minuten und sind ideal, wenn du dich gestresst, angespannt oder „nicht ganz da“ fühlst.
- Orientierung
Fühle den Kontakt deiner Füße mit dem Boden.
Lass deinen Blick langsam im Raum umherwandern.
Wo würden deine Augen gerne landen? Nimm wahr, wie sich das Landen anfühlt. - Pendeln
Fokussiere dich auf eine Stelle in deinem Körper, die neutral oder angenehm ist.
Suche dann etwas, das angespannt ist.
Wechsle wieder zur neutralen/angenehmen Stelle.
Pendle einige Male hin und her. Was verändert sich? - Wuu-Sound
Spüre den Kontakt der Sitzhöcker auf dem Stuhl.
Atme tief ein und lass beim Ausatmen ein weiches „Wuuuu“ entstehen.
Fühle die Vibration im Brustkorb. Was nimmst du wahr?
Wiederhole den Wuu-Sound 2-3x.
Diese kleinen Übungen helfen dem Nervensystem, Balance wiederzufinden – nur durch Präsenz.
Sicherheit statt Wiedererleben
Während die Welt nach immer schnelleren Lösungen sucht, geht Somatic Experiencing den entgegengesetzten Weg. Dazu braucht es Selbstregulation statt Selbstoptimierung, kleine Schritte statt Überflutung und Pendeln statt starrem Ablaufplan. Somatic Experiencing lehrt uns, Heilung nicht zu „machen“, sondern entstehen zu lassen. Wenn der Körper Sicherheit im Hier und Jetzt erfährt, kennt er den Weg. In unserem Seminar Nervensystem-orientiertes Coaching erfährst du mehr über körperorientiertes Coaching, inspiriert durch Somatic Experiencing.
Hinweis: Somatic Experiencing ist eine eingetragene Marke.
Quellen:
- Peter A. Levine – Traumaheilung: Das Erwachen des Tigers (1997)
- Peter A. Levine – Sprache ohne Worte (2010)
- Video über Ray: https://www.youtube.com/watch?v=bjeJC86RBgE












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